© Gabriele März

„Die Noten machen den Text lebendig“

04.11.2025,

Dr. Bernhard Liess, Stadtdekan, Evangelisch-Lutherisches Dekanat München

Auszüge aus der Predigt im Eröffnungsgottesdienst, 31.10.2025

Luther und Bach. Reformation und Musik. Das gehört untrennbar zusammen. „Die Noten machen den Text lebendig“ schreibt Luther. Ohne Musik ist der Mensch wie ein Stein, so Luther. Recht hat er. Denn wie traurig und wie schlimm ist es, wenn Menschen zu Steinen werden. Wenn sie nichts mehr berührt, nichts mehr bewegt, nichts mehr erweicht, nichts mehr freut, nichts mehr zu Tränen rührt. Steinerne Menschen. Es gibt so viele von ihnen. Höchste Zeit dann, dass Gott durch die Musik zu ihnen spricht, ihr Herz emotional trifft und sie wieder zu Menschen, zu wahren Menschen werden lässt. Die Musik kann das. Uns menschlich werden lassen. Unsere Welt braucht mehr Musik.

Stadtdekan Dr. Bernhard Liess
Stadtdekan Dr. Bernhard Liess © Gabriele März

Wie schön und wie passend also, dass wir das Bachfest mit einem Gottesdienst am Reformationsfest eröffnen. Die Kantate „Gott der Herr ist Sonn und Schild“ komponierte Bach eigens für das Reformationsfest 1725. Und er komponierte sie als Lob und Dank-Kantate, der man den Anlass Reformationsfest erst einmal nicht anmerkt. Man muss schon eingefleischter Lutheraner sein, um in den Paukenschlägen des opulenten Eingangssatzes Luthers Hammerschläge an der Wittenberger Schlosskirche zu hören.

Diese Kantate ist festlich fröhlich. In ihr findet sich keine protestantische Heldenverehrung, sie hat nichts trutzig-verbissen-Ideologisches an sich. Sondern sie strahlt – wie das Reformationsfest es tun sollte, und wie wir das auch als Christinnen und Christen tun sollten, Freude aus, Freiheit, Lebendigkeit und Leichtigkeit, einen weiten Horizont. Wir brauchen diese Gaben.

Zugegeben, ein paar so kleine versteckte konfessionelle Spitzen finden sich dennoch, wie der bellende Lästerhund und die Bitte für die, die „an fremdem Joch aus Blindheit ziehen müssen.“ Unsere katholischen Geschwister mögen darüber gnädiglich hinwegsehen. Denn wir feiern dieses Fest heute zwar auch als Selbstvergewisserung, aber nicht um uns abzugrenzen, um konfessionell auf die Pauke zu hauen, sondern damit wir um so fröhlicher die bereichernde Begegnung mit unseren Glaubensgeschwistern suchen. Musik erweitert den Horizont, in jeder Hinsicht.

Und die Musik ließ schon zur Zeit der Reformation Brücken bauen. So schreibt selbst Martin Luther, sonst um keine konfessionelle Polemik verlegen, voller Hochachtung an den katholischen Münchner Hofkomponisten Ludwig Senfl und bestellt – man höre und staune – bei ihm Kompositionen. „Grüße mir deinen ganzen Musikchor ehrerbietig.“ schreibt Luther aus dem evangelischen Wittenberg, dem Hort der Reformation, ins katholische München, den Hort der Gegenreformation. Ich stelle mir das bildlich vor, Ludwig Senfl hier in München vor seinem katholischen Ensemble: „Ich soll Euch herzliche Grüße von Martin Luther ausrichten.“ Wo Sprachlosigkeit herrscht und Beziehungen kaum noch möglich sind, da kann Musik Brücken bauen.

„Gott der Herr ist Sonn und Schild“, erinnert uns Bach mit dem Zitat aus Psalm 84. Schauen wir einmal auf die Zeit damals. Der französische König Ludwig XIV., der absolutistische Sonnenkönig, war 1725 gerade einmal 10 Jahre tot, und er hatte einen bankrotten Staat hinterlassen und 50 Jahre Krieg geführt. Dagegen heißt es hier: „Gott der Herr ist Sonn und Schild“ – so erinnert die Bibel und Bachs Vertonung und stellt damit – wie aktuell – die Absolutheitsansprüche irdischer autoritärer Herrscher und ihre Kriegsfantasien in Frage. Autoritäre und populistische Denkstrukturen sind keine Lösung. Doch der Satz „Gott der Herr ist Sonn und Schild“ bleibt abstrakt und theoretisch, wenn er nicht unser Satz wird.

Und deshalb präzisiert die Alt-Arie: „Gott ist unsre Sonn und Schild.“ Wie schön, wenn wir das sagen oder singen könnten. Und es spiegelt ja eine Erfahrung wieder, dass es dunkel sein kann in der Welt und in unserem Leben oder in uns drinnen. Weil uns die Zuversicht abhanden gekommen ist, und sie kann uns – gerade jetzt – so schnell verloren gehen. [...]

Wie leicht, die Zuversicht aufzugeben. Und auch deshalb sind wir heute hier: Weil es unsere Aufgabe als Christinnen und Christen ist, nichts zu beschönigen, nichts wegzureden oder mit süßlicher Glaubenssoße zu verkitschen, sondern unsere Aufgabe ist es, zuversichtlich zu bleiben, trotz allem. In einer Welt, in der wirkliche Lästerhunde die Sprache verrohen lassen und den Hass säen, in der die Feinde der pluralistisch-demokratischen, weltoffenen, bunten, diversen Gesellschaft munter ihre „Pfeile schnitzen“, wie es in unserer Bachkantate heißt, da ist es unsere Aufgabe, wertschätzende Kommunikation, zivile Sprache, Niveau im Umgang miteinander, in christlicher Gesinnung zu ermöglichen. Musik kann immun machen vor Hass. [...]

Die Musik und Bach machen uns groß, aber so dass wir die Menschlichkeit nicht verlieren. Dass wir also in unserer Begrenztheit, mit all den Grenzen, die wir so oft erfahren, doch fröhlich, zuversichtlich und gelassen bleiben können. Das kann Musik.

Und trotzdem Gott loben und ihm danken können. Der Choral „Nun danket alle Gott“ ist von Bach so gesetzt und so einfach harmonisiert, sogar mit einem Zwischenzeilenspiel , um sozusagen noch einmal durchzuatmen, dass er eigentlich zum Mitsingen der ganzen Gemeinde einlädt. [...]

Die Musik öffnet uns nicht nur die Ohren, sondern auch die Augen für Gutes und Schönes und dafür, was für ein Geschenk unser Leben ist. Singen, jubeln, tanzen könnten wir manchmal und tun es viel zu selten. In seiner wunderbaren Bach-Biographie schreibt der Dirigent John Eliot Gardiner: „Es ist der in der Himmelsburg musizierende Bach, der für uns die Stimme Gottes hörbar macht – in menschlicher Form.“ Das kann Musik, und das kann die Musik Johann Sebastian Bachs: Die Stimme Gottes hörbar machen.

Und wenn uns die Stimme Gottes erreicht, dann bleiben wir keine unberührbaren Steine, dann werden wir lebendig, auch wenn sich unser Körper alt anfühlen mag, dann können wir uns Zuversicht bewahren, auch wenn so vieles dagegen zu sprechen scheint, dann können wir unser Leben, so verworren es manchmal sein mag, als Geschenk empfinden, dann können wir unsere eigene Unvollkommenheit und die der anderen fröhlich und vielleicht auch mit Humor aushalten, dann kann Gott aus unseren noch so manchmal schrägen und schiefen Tönen eine Harmonie machen, und dann können wir – trotz allem – sagen und jetzt gleich singen: Auch in meinem Leben:
„Gott ist gegenwärtig“.

Amen.

Nach dem Gottesdienst: Stadtdekan Dr. Bernhard Liess mit Stephanie Jenke, Hansjörg Albrecht, Pfarrer Dr. Norbert Roth und den Gästen der Neuen Bachgesellschaft
Nach dem Gottesdienst: Stadtdekan Dr. Bernhard Liess mit Stephanie Jenke, Hansjörg Albrecht, Pfarrer Dr. Norbert Roth und den Gästen der Neuen Bachgesellschaft © Gabriele März

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